07.01.2021 – Es ist eine atemberaubende Entwicklung: Noch bis in die 1960er-Jahre war eine normale Schulzeit für Menschen, die an der schweren Verlaufsform der Hämophilie litten, kaum möglich. Schwere Einblutungen in Gelenken und Muskulatur führten zu Fehlzeiten und Aufenthalten im Krankenhaus. Manche besuchten Internate, die eigens für Hämophilie-Betroffene eingerichtet wurden. Jahrzehntelang war eine Blutspende von nahen Verwandten oft die einzige Behandlungsoption. Erst Ende der 1960er-Jahre wurde das Leben der Patienten und Patientinnen deutlich einfacher. Denn von da an gab es Gerinnungsfaktorkonzentrate, die ab den 1970er-Jahren nicht mehr von Ärzten und Ärztinnen verabreicht werden mussten, sondern von den Betroffenen selbst gespritzt werden konnten – im Rahmen der sogenannten „ärztlich kontrollierten Heimselbstbehandlung für Bluter“. In den 1990er Jahren kamen erstmals gentechnisch hergestellte Faktorenkonzentrate auf den Markt. Heute gibt es zudem Konzentrate, die für eine stabile Blutgerinnung sorgen und einen so genannten biphasischen Antikörper, der den Gerinnungsfaktor VIII ersetzt und unter die Haut injiziert wird. Und: Es werden Gentherapien entwickelt, von denen sich viele nicht nur eine Kontrolle ihrer Erkrankung, sondern Heilung erhoffen. Wie realistisch diese Hoffnungen sind und was man über die „Bluter-Krankheit“ sonst noch wissen sollte, darüber haben wir mit Dr. Georg Goldmann gesprochen, Oberarzt am Hämophiliezentrum in Bonn.
(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von „Pharma Fakten“ - Link)
Herr Dr. Goldmann, Sie behandeln Hämophilie-Betroffene, also Menschen, die an der so genannten Bluter-Krankheit leiden. Wie häufig ist diese Krankheit und welche Symptome zeigen sich?
Dr. Georg Goldmann: Die Hämophilie A gehört zu den seltenen Erkrankungen und tritt bei einem von etwa 5.000 bis 8.000 männlichen Neugeborenen auf. Die Hämophilie B ist noch seltener mit etwa einem Betroffenen bei 20.000 bis 30.000 Geburten. Beim unbehandelten Hämophilen ist die Blutstillung verzögert und unvollständig und es kommt bei Verletzungen, aber auch ohne erkennbaren Anlass, zu ausgedehnten Blutungen – vorwiegend in Muskeln, Gelenken und Haut, seltener auch in den inneren Organen. Auf jeden männlichen Hämophiliepatienten kommen noch zwei weibliche Überträgerinnen, von denen jede dritte Faktorverminderungen von mehr als 40 Prozent aufweist – dies wiederum kann mit klinischen Symptomen einer Blutungsneigung einhergehen.
In welchem Alter zeigt sich diese Krankheit?
Dr. Georg Goldmann. Foto: IHT
Dr. Goldmann: Erste Symptome zeigen sich bei den schweren Verlaufsformen bereits im Kleinkindesalter. Wenn die Kinder ins Krabbelalter kommen und sich irgendwo anstoßen, treten Hämatome auf, also Blutergüsse – manchmal passiert das schon beim Hochheben des Kindes. Eltern, die noch nie ein hämophiles Kind hatten, sind dann verwundert und gehen in der Regel zum Kinderarzt. Dabei kommt es immer wieder vor, dass Eltern zunächst bezichtigt werden, das selber verursacht zu haben. Meistens klärt sich das schnell durch eine Gerinnungsuntersuchung. Eltern, die damit rechnen, dass sie ein hämophiles Kind bekommen könnten, sollten im Verlauf der Schwangerschaft durch ein Hämophiliezentrum mitbetreut werden.
Wie wird die Hämophilie behandelt?
Dr. Goldmann: Man versucht heute, mit der Behandlung möglichst früh zu beginnen, um Gelenkblutungen zu vermeiden. Dabei werden einmal wöchentlich kleine Dosen eines Faktorkonzentrates, das den fehlenden Gerinnungsfaktor ersetzt, als intravenöse Spritze gegeben. Das Problem dabei: Die Patienten haben ein hohes Risiko, einen so genannten Hemmkörper zu bekommen – also eine Art Allergie gegen das Medikament zu entwickeln, die dazu führt, dass der Gerinnungsfaktor nicht mehr wirkt. Bei initial niedrigen Dosierungen wird dieses Risiko etwas geringer eingeschätzt – man therapiert deshalb möglichst früh, aber in geringeren Dosen. Oft beginnt die Therapie schon, wenn das Kind ein halbes Jahr alt ist oder sobald die Venenverhältnisse es zulassen.
Was passiert, wenn Komplikationen auftreten wie die von Ihnen erwähnten Hemmkörper?
Dr. Goldmann: Hier gibt es seit einiger Zeit ein neues Medikament für die Blutungsprophylaxe, einen so genannten biphasischen Antikörper, der im Februar 2018 in Europa zur Behandlung von Hämophilie A zugelassen wurde. Er eignet sich für Patienten, die einen Hemmkörper entwickelt haben, aber auch für Patienten ohne Hemmkörper zur Blutungsvorbeugung. Die Patienten spritzen sich dieses Mittel selbst unter die Haut, also nicht mehr in die Vene – meistens einmal pro Woche. Der Hemmkörper selbst sollte aber trotzdem durch eine Immuntoleranztherapie beseitigt werden.
Zu den Hoffnungsträgern bei der Behandlung von Hämophilie gehören Gentherapien. Wie funktionieren solche Therapien und wie ist hier der aktuelle Stand der Forschung?
Dr. Goldmann: Beim Faktor-VIII-Mangel fehlt ein Eiweiß, das zum Großteil in der Leber gebildet wird. Man schleust deshalb in die Leber ein neues Genom ein, das die Information enthält, diesen Faktor zu bilden. Als Transportmittel dient dabei ein so genanntes Vektorvirus, ein harmloses Virus, das auf die Leber spezialisiert ist und das neue Erbgut in die Leberzellen transportiert. Vereinfacht gesagt bekommt dort jede Zelle die Anweisung, Faktor VIII zu bauen. Man hat übrigens schon vor Jahrzehnten damit begonnen, Gentherapien zu entwickeln, nur waren damals die Techniken noch nicht so gut.
Und heute?
Dr. Goldmann: Heute laufen Studien zu Gentherapien, die kurz vor der Zulassung stehen. Es gibt Hämophilie-B-Studien, die schon über viele Jahre laufen – bei der Hämophilie A sollten eigentlich im abgelaufenen Jahr schon die ersten Medikamente zugelassen werden. Aber dann haben die Zulassungsbehörden erklärt, dass die bisher vorgelegten Daten noch ergänzt werden müssten. Jetzt müssen vor der Zulassung noch weitere Daten nachgereicht werden – das ist aber ein ganz normaler Vorgang, der dem größtmöglichen Schutz der Patienten dient.
Was würde eine Gentherapie für die Betroffenen bedeuten?
Dr. Goldmann: Für viele Patienten ist eine Gentherapie schon ein Traum. Vor allem die älteren Patienten haben oft eine leidvolle Geschichte hinter sich. Bis in die 1970er Jahre hinein mussten sie wegen jeder Blutung zum Arzt oder ins Krankenhaus. Damals gab es keine vorbeugenden Spritzen, sondern es kam zu einer Blutung und dann wurde erst reagiert. Die ärztlich kontrollierte Heim-Selbstbehandlung mit vorbeugenden Injektionen hat erst in den 1970er-Jahren begonnen. In der Zeit davor war kein normaler Schulbesuch möglich und es gab sogar Internate für Hämophile. Viele davon konnten in ihrer Kindheit oft nicht mit Freunden herumtoben und schon gar nicht Fußball spielen – stattdessen lagen sie immer wieder wochenlang im Krankenhaus. Für solche Patienten ist die Gentherapie etwas, was sie mit Heilung verbinden. Ich erfahre im Patientengespräch mit Hämophilen nie so große Aufmerksamkeit wie in jenen Momenten, in denen ich von der Gentherapie erzähle. Viele sagen, sie wollen das unbedingt machen.
Wie beeinflusst COVID-19 das Leben Ihrer Patienten?
Dr. Goldmann: Chronisch kranke Patienten, die regelmäßig auf ein Medikament angewiesen sind, bekommen natürlich in Corona-Zeiten Angst, nicht genügend bevorratet zu sein – das ist nicht anders als beim Toilettenpapier. Bei einer Gentherapie hoffen sie, dass sie keinen Vorrat mehr brauchen, denn hier könnte ja eine einzige Infusion für lange Zeit reichen.
Können Gentherapien zum Standard für Hämophilie-Patienten und Patientinnen werden oder sind sie nur für einige Betroffene geeignet?
Dr. Goldmann: Das hängt davon ab, wie gut sie funktionieren und ob es nur wenige Nebenwirkungen gibt, die gut zu tolerieren und zu therapieren sind. So zeigen sich in den Veröffentlichungen aus den laufenden Studien zum Beispiel bei manchen Patienten erhöhte Leberwerte, die man aber in der Regel mit einer zeitlich befristeten Cortisondosis gut therapieren kann – es gibt mittlerweile sehr leberspezifische Cortisone, das ist ein großer Pluspunkt. Und natürlich muss durch die Gentherapie genügend Faktor VIII gebildet werden, denn die Patienten wollen ja von ihren Spritzen wegkommen. Je optimaler also die Wirkung ist und je geringer die Nebenwirkungen sind, umso mehr Patienten kommen für eine Gentherapie in Frage – und umso mehr werden sie machen wollen. Ich bin da sehr zuversichtlich, zumal sich die Technik bei den Gentherapien in den letzten 20 Jahren rasant entwickelt hat.
Wie wird die Hämophilie-Behandlung in fünf oder zehn Jahren aussehen?
Dr. Goldmann: Ich glaube, in den nächsten fünf Jahren werden wir langsam mit ausgefeilten Gentherapien starten – vor allem mit Patienten, die das wirklich wollen und es mittragen, obwohl es eine vergleichsweise neue Therapieform ist. In zehn Jahren könnte ich mir vorstellen, dass die Techniken noch ausgereifter sind und Kinder mit einer Hämophilie sofort therapiert werden können. Sie erhalten eine Gentherapie und reden dann nie wieder über diese Krankheit. Das ist natürlich ein langer Weg – aber man muss irgendwann mit einem solchen Weg anfangen.
Dr. Georg Goldmann arbeitet als Oberarzt am Institut für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin (IHT) des Bonner Hämophiliezentrums – einem der weltweit größten Hämophiliezentren. Jährlich werden dort rund 1.600 Betroffene versorgt, bei denen eine erblich bedingte Blutungsneigung auftritt – rund 30 Prozent davon leiden unter einer schweren Form dieser seltenen Erkrankung. Insgesamt behandeln die Mitarbeiterinnen des Bonner Hämophiliezentrums rund 20 Prozent aller schwer betroffenen Hämophilie-A-Erkrankten in Deutschland.*