Faktor-VIII- und Faktor-IX-Konzentrate: Warum kann es immer
wieder zu Lieferengpässen kommen?
Eine Stellungnahme aus der Sicht eines Herstellers
Gerinnungsfaktoren zur Behandlung der Hämophilie A und B
werden heute entweder aus menschlichem Blutplasma isoliert oder
gentechnisch hergestellt. Unabhängig davon, welcher dieser
beiden Wege beschritten wird, ist es das Ziel, hochwirksame
Gerinnungsfaktor-Konzentrate in höchster Reinheit mit
hervorragender Verträglichkeit und Sicherheit den Patienten
anzubieten. Dieses Ziel kann nur unter Einsatz modernster Techniken
sowie durch Einhaltung der höchsten Sicherheitsstandards und
Qualitätskriterien erreicht werden. Die Anforderungen an ein
Gerinnungskonzentrat und dessen Herstellung sind in nationalen und
internationalen Richtlinien genauestens festgelegt. Darüber
hinaus wird ständig an Innovationen, z. B. der Einführung
der PCR (siehe Glossar) für Plasmapräparate, an neuen
Virusinaktivierungsmethoden oder an völlig neuen Generationen
von Produkten gearbeitet, die Sicherheits- und
Qualitätsstandards der Präparate noch weiter verbessern
sollen. Eine führende Rolle wird hier von den Herstellern der
Gerinnungskonzentrate übernommen, die den Stand von
Wissenschaft und Technik maßgebend mitbestimmen.
Seit den 60ern Jahren wird die Heimselbstbehandlung und die
Prophylaxe in den skandinavischen Ländern und Deutschland mit
Erfolg angewendet. Die Akzeptanz dieser Therapieformen durch andere
Länder hat in den letzten Jahren den Bedarf an sicheren und
hochgereinigten Konzentraten beständig ansteigen lassen. Dies
betrifft vor allem die seit 1993 verfügbaren gentechnisch
hergestellten Konzentrate, die z. B. in den USA derzeit von etwa
76% der Patienten verwendet werden. In Irland werden nur noch
rekombinante Konzentrate eingesetzt und in Großbritannien
alle Patienten unter 16 Jahren damit behandelt. In Dänemark
wurde bereits vor Jahren entschieden, bis zur Jahrtausendwende alle
Patienten nur noch mit rekombinanten Konzentraten zu behandeln.
Zukünftig ist durch die Etablierung der
Hämophilie-Therapie in den aufstrebenden
Entwicklungsländern mit einem weltweit weiter zunehmenden
Bedarf zu rechnen. Selbstverständlich tragen die Hersteller
dieser Tatsache durch Ausweitung der Produktionskapazitäten
Rechnung. Wie kann es dennoch immer wieder zu
Versorgungsengpässen oder gar kompletten Lieferabrissen
kommen?
Produktionskapazität
Grundvoraussetzung zur Herstellung von Faktorenkonzentraten ist
natürlich das Vorhandensein einer Produktionsanlage sowie
ausreichend vorhandene Ausgangsmaterialien.
Jede Produktion erfordert die Errichtung einer oder mehrerer
Produktionsanlagen. Da zwischen Planung und letztlich der Aufnahme
der Produktion Jahre vergehen, müssen die Hersteller das
Kunststück vollbringen, z. B. den Bedarf an Faktor VIII in 10
Jahren "vorherzusagen". Einmal beschlossen und geplant geht der Bau
einer Anlage noch relativ schnell voran. Testung und die sgn.
Validierung (siehe Glossar) aller Prozesse und letztlich die
Abnahme durch die Behörden sind allerdings
außerordentlich zeit- und kostenintensiv, so dass es u. U.
nach dem Bau nochmals vier Jahre oder länger dauern kann, bis
eine derartige Anlage tatsächlich Gerinnungsfaktoren für
Patienten produzieren darf. Selbst dann kann es vorkommen, dass
eine Anlage oder Teile davon z. B. nur für die USA herstellen
darf, weil die Zulassung für Europa noch fehlt.
Es ist selbstverständlich, dass die Anlage selbst sowie die
Herstellungs- und Qualitätskontrollprozesse höchsten
Qualitätskriterien genügen müssen (Good
Manufacturing Practice, GMP). Wie in den letzten Jahren mehrfach
bekannt geworden, können z. T. nur kleine Abweichungen von
diesen Kriterien zur Schließung von Anlagen oder zur
Verzögerung der Inbetriebnahme neuer Anlagen führen. Vor
einer Wiedereröffnung müssen häufig aufwändige
bauliche Maßnahmen oder Änderungen im Produktionsprozess
durchgeführt werden, die wiederum validiert und von den
Behörden freigegeben werden müssen.
Selbstverständlich kann die Produktionskapazität einer
bestehenden Anlage auch durch Anbauten ausgeweitet werden, aber
auch hier gelten die oben beschriebenen Anforderungen, so dass in
der Regel mindestens zwei Jahre hierfür anzusetzen sind.
Zudem muss jede Produktionsstätte selbstverständlich
in regelmäßigen Abständen gewartet werden, was
ebenfalls mit einer kurzfristigen Unterbrechung der Produktion
einhergehen muss. Jede Anlage wird von den Behörden
regelmäßig inspiziert. Kommt es hierbei zu
Beanstandungen, die Nach- bzw. Ausbesserungen erforderlich machen,
muss der Betrieb wiederum auf unbestimmte Zeit unterbrochen
werden.
Nur durch diese zeitintensive, hochkomplexe Vorgehensweise kann
der heutige, für uns selbstverständliche, hohe
Sicherheitsstandard der Präparate gewährleistet werden.
Die Erfüllung der hohen Anforderungen an Herstellungs- und
Qualitätskontrollprozesse werden allerdings mit einem Verlust
an Flexibilität erkauft. Dies führt oft dazu, dass auf
einen überraschend veränderten Bedarf nur
zeitverzögert reagiert werden kann.
Produktion
Die gleichbleibend hohe Qualität der Gerinnungsfaktoren
wird durch ständige Überwachung des Herstellungsprozesses
und durch Laboruntersuchungen des Endprodukts sichergestellt. Jede
Charge wird vom Hersteller nach genau definierten Richtlinien
(Spezifikationen) getestet. Werden bereits im Verlauf des
Herstellprozesses Abweichungen von der gewünschten
Qualität festgestellt, so müssen diese
überprüft, korrigiert und dokumentiert werden. Liegt die
Abweichung nicht in einem akzeptablen Bereich, muss die Charge
verworfen werden. Nach Abfüllen und Gefriertrocknen erfolgt
dann die Endprodukt-Testung. Diese interne Freigabe dauert
mindestens vier Wochen.
Da es sich sowohl bei den rekombinanten als auch den
plasmatischen Konzentraten um biologische Produkte handelt, ist der
Herstellprozess gewissen natürlichen Schwankungen unterlegen.
Auf das Endprodukt hat dies keinerlei Auswirkungen, weil alle
Testergebnisse im Rahmen bestimmter Toleranzbereiche liegen
müssen . Liegt allerdings ein Testergebnis leicht
außerhalb des festgelegten Bereichs, so muss der Test
wiederholt werden. Damit ergibt sich auf jeden Fall eine
verzögerte interne Freigabe der Charge, in seltenen, aber
nicht auszuschließenden Fällen, kann die Charge gar
nicht freigegeben werden. Natürlich haben alle Hersteller
immer mehrere Chargen gleichzeitig in der Produktion, somit also
eine gewisse Reserve. Aber trotzdem kann es im ungünstigen
Fall zu einer leichten und meist vorübergehenden Knappheit
eines bestimmten Produkts bzw. einer Konzentratstärke
(Potency) kommen.
Plasmatische Konzentrate
Der Herstellung der plasmatischen Faktoren geht die
zeitaufwändige Gewinnung von Plasma voraus. Plasma ist ein
teurer und wertvoller Rohstoff und muss höchsten
Qualitätsanforderungen genügen. Deshalb ist das Sammeln
und Verarbeiten von Plasma nur in hochentwickelten Ländern mit
entsprechender Infrastruktur möglich und wünschenswert.
Es ist selbstverständlich, dass die Spender gesund sein
müssen und auch keiner Risikogruppe angehören dürfen
(dazu zählen auch seit kurzem Personen, die sich zwischen 1990
und 1996 insgesamt mehr als 6 Monate im Vereinigten Königreich
aufgehalten haben). Die Plasmaspenden selbst werden auf
Antikörper gegen HIV-1/2, HCV sowie auf HBsAg und ALT
getestet, seit kurzer Zeit auch mit Hilfe der PCR auf HCV sowie von
einigen Herstellern auf HBV, HIV, HAV und Parvo-Virus. Die Spenden
von Erstspendern werden auf jeden Fall dann verworfen, wenn der
Spender nicht innerhalb eines halben Jahres erneut spendet Jede
Plasmaspende wird dann aus Sicherheitsgründen zwei Monate
gelagert (Quarantäne). Wenn während dieser Zeit kein
positiver Befund für den jeweiligen Spender eingeht, werden
die Spenden für die Produktion freigegeben. Von der Gewinnung
der Plasmaspende bis zur deren Verarbeitung in einem Plasmapool
vergehen so etwa zwölf Monate. Dies zeigt deutlich, wie weit
Hersteller in die Zukunft planen müssen, um eine
lückenlose Produktion aufrecht erhalten zu können. Obwohl
bis dato eher selten, kann auch hier ein plötzliches Ereignis
zu einer akuten Plasmaknappheit führen. Als Beispiel mag
England gelten, wo nach Auftreten der Variante von CJK im Jahr 1996
im Land gewonnenes Plasma nicht mehr verarbeitet werden darf, was
zu einer drastisch gestiegenen Nachfrage nach rekombinanten
Produkten führte, die nur schwer zu bewältigen war.
Im Gegensatz zu den rekombinanten Faktoren müssen die
Chargen plasmatischer Produkte von der jeweils zuständigen
nationalen Behörde freigegeben werden. In Deutschland ist
für diese Chargenfreigabe das Paul-Ehrlich-Institut (PEI)
zuständig, das laut Gesetz hierfür 2 Monate Zeit hat. In
der Regel werden allerdings nur 2-4 Wochen für eine
Chargenfreigabe benötigt. Das PEI prüft die
ordnungsgemäße Dokumentation der Herstellung und der
Untersuchungsergebnisse und führt selbst Laboruntersuchungen
zur Qualitätssicherung durch. Erst nach der Freigabe durch die
Behörden kann eine Charge an Patienten weitergegeben
werden.
Diese Aufzählung macht sehr gut die hochkomplexe Verzahnung
von Plasmaspende, Produktion, Qualitätskontrolle und Freigabe
durch die Behörden deutlich und zeigt weiterhin, dass es
ungeachtet sorgfältiger Planung immer wieder einmal zu
Verzögerungen kommen kann.
Manchmal müssen auch Chargen vom Markt zurück genommen
werden. Dies war in den letzten Jahren z. B. dann der Fall, wenn
ein Spender nachträglich in eine CJK-Risikogruppe eingeordnet
werden musste (z. B. als Empfänger eines
Hirnhauttransplantats). Auch derartige Ereignisse reißen
natürlich Lücken in die Versorgung, die ausgeglichen
werden müssen.
Rekombinante Konzentrate
Der Bedarf an rekombinanten Konzentraten ist seit ihrer
Markteinführung sehr stark gestiegen. Im Gegensatz zu
plasmatischen Faktoren ist die Herstellung rekombinanter Produkte
nicht von einem einzelnen Rohstoff (z. B. Plasma) abhängig.
Begrenzender Faktor ist hier in erster Linie die Kapazität der
Produktionsstätten. Diese lässt sich, wie beschrieben,
nur unter hohem Zeitaufwand erweitern. Müssen darüber
hinaus ganze Anlagen (oder Teile davon) geschlossen werden (meist
nach Inspektion durch eine Aufsichtsbehörde) so ist es
kurzfristig äußerst schwer, diesen Ausfall zu ersetzen
(dies gilt in erster Linie für den betroffenen Hersteller,
aber auch für andere Hersteller, die ähnliche Produkte
anbieten).
Natürlich gelten auch hier die genannten hohen
Qualitätsstandards (GMP).Bei einem gentechnisch hergestellten
Faktor VIII werden während Produktion sowie am Endprodukt mehr
als 600 verschiedene Testungen vorgenommen, wobei es natürlich
zu Abweichungen kommen kann, die dann zu erneuten Testungen und
damit verbundenen verzögerten Freigaben führen.
Bestätigt sich jedoch eine Abweichung von den festgelegten und
vorgeschriebenen Kriterien, steht die Charge nicht mehr in der
Versorgungsplanung zur Verfügung.
Schlussfolgerungen
Die außerordentlich hohe Verträglichkeit und
Sicherheit moderner Präparate wird durch Verwendung modernster
Techniken und Einhaltung höchster Qualitätskriterien
erreicht. Die hochkomplexen Abläufe bei der Produktion sowie
die Einhaltung der geforderten Richtlinien und
Zulassungsvoraussetzungen bedingen allerdings eine gewisse
"Reaktionsträgheit". Natürlich verfügt jeder
Hersteller über Reserven, mit denen erwartete Schwankungen des
Bedarfs, aber auch Ausfälle einzelner Chargen so gut
ausgeglichen werden können, dass in der Regel weder Ärzte
noch Patienten davon etwas bemerken. Vor allem global arbeitende
große Hersteller verfügen über zahllose
Möglichkeiten, z. B. durch Umdirigieren von Chargen, für
Ausgleich zu sorgen. So ist es ohne weiteres möglich, für
Europa vorgesehene Produkte kurzfristig neu zu "verteilen", also
Ländern mit höherem Bedarf größere Mengen zu
Lasten von Ländern mit geringerem Bedarf zuzuteilen. Dies
erfordert "lediglich" eine Änderung der Verpackungsplanung,
schlimmstenfalls eine Umverpackung. Zeitaufwändiger, aber
ebenfalls möglich, ist auch eine Umverteilung zwischen USA und
Europa.
Kommt es allerdings zur Schließung ganzer Anlagen (wie in
den letzten Jahren mehrfach geschehen) oder zum
(vorübergehenden) Wegfall eines wichtigen, globalen Produkts,
so sind die Reserven aller Hersteller sehr schnell
erschöpft.
In einer solchen Situation ist es dann besonders wichtig, die
sich dadurch ergebende "Versorgungskrise" durch eine enge
Zusammenarbeit zwischen Herstellern und behandelnden Ärzten zu
meistern. Nur hierdurch kann zumindest die Grundversorgung
gewährleistet werden, vor allem während einer
Übergangszeit, die alle Hersteller benötigen, um
Produktion und Freigabe der Produkte dieser plötzlich
aufgetretenen Situation anzupassen. Nach meist nur kurzer Zeit, bei
besonders ernsten Lieferausfällen aber auch eventuell erst
nach ein bis zwei Monaten, sind diese Anpassungen vollzogen und die
benötigten Mengen an Gerinnungsfaktoren stehen wieder zur
Verfügung.
Glossar:
ALT: Alaninaminotransferase, Leberenzym, dessen
Erhöhung im Blut eine Lebererkrankung, wie z. B. Hepatitis,
anzeigt.
CJK: Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, seltene
Gehirnerkrankungen, bei der es zur schwammartigen
Durchlöcherung des Gehirns kommt. Die sogenannte neue Variante
von CJK (vCJK) ist wahrscheinlich auf den Verzehr von
BSE-verseuchtem Rindfleisch zurückzuführen. Diese
Erkrankung kommt fast ausschließlich in Großbritannien
vor. Obwohl CJK nach bisherigen Erkenntnissen nicht durch Blut- und
Plasmaprodukte übertragen werden kann, wird Blut und Plasma
aus Großbritannien weltweit nicht zur Herstellung von
Gerinnungsfaktoren verwendet.
HAV: Hepatitis-A-Virus
HbsAg: Hepatitis-B-Oberflächenantigen, Bestandteil des
Hepatitis-B-Virus, dessen Nachweis im Blut auf eine
Hepatitis-B-Infektion hinweist
HBV: Hepatitis-B-Virus
HCV: Hepatitis-C-Virus
HIV: Humanes Immundefizienz-Virus
PCR (engl. Polymerase Chain Reaction,
Polymerase-Ketten-Reaktion): eine Labormethode, um Erbanlagen, z.
B. von Viren, zu vervielfältigen und damit nachweisbar zu
machen.
Validierung: Nachweis, dass jeder einzelne Schritt im
Herstellprozess immer wieder zum gleichen und gewünschten
Ergebnis führt.